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Tote schreiben keine Bücher

Guido Westerwelle war deutscher Außenminister. Mit 55 Jahren erkrankte er an Akuter Myeloischer Leukämie AML. Seine Stammzelltransplantation überlebte er eineinhalb Jahre. In dieser Zeit schrieb er mit dem Journalisten Dominik Wichmann das Buch „Zwischen zwei Leben„, Hoffmann & Campe 2015. Das Buch schrieb er in großem Dank an die Wissenschaft, die ihm sein zweites Leben „geschenkt“ hatte.

Cover des Buches von Guido Westerwelle "Zwischen zwei Leben"

Das Buch ist für Betroffene wie für politisch Interessierte sehr empfehlenswert. Westerwelle schildert die Tortur der Stammzelltransplantation sehr nüchtern. Die Vorbereitung der Transplantation besteht aus einem Vernichtungsfeldzug gegen die aggressiven Krebszellen, dabei geht es um deren radikaler Ausrottung. Zum einen wird intensive Chemotherapie angewendet, zum zweiten mehrfache Bestrahlung des gesamten Körpers. Keine Zelle, die sich rasch vermehren kann, überlebt.

Ohne den nachfolgenden Segen neuer Stammzellen eines Spenders oder einer Spenderin, gäbe es kein neues Leben. Ob die Einspülung der neuen Zellen am Ende klappt ist ein großes Risiko. Etwa 25% der Menschen mit fremden Stammzellen überleben das. Für Guido Westerwelle blieb genug Zeit, um diese Medizin zu feiern, danach starb er. Bin ich jetzt zu zynisch? Zynisch ist die Tatsache, dass wir keine verstorbenen Prommis darum bitten können, ihre Erfahrungen zu berichten.

Guido Westerwelle hat mich mit seinem Buch dennoch von seiner Aufrichtigkeit überzeugt. Unter anderem betont er seinen Erfolg als Außenminister. In seiner Zeit hat sich Deutschland an keinem neuen Krieg beteiligt. Ich ziehe vor ihm den Hut, dass er dies als FDP-Politiker als einen Erfolg kennzeichnet. Er gehört zu den Guten.

Wer neue Stammzellen bekommt, muss mit ungewöhnlichen Abwehrreaktionen rechnen. Mal lehnen die neuen Stammzellen eine Leber ab, mal stoßen sie die Nieren ab. Um solche Reaktionen zu vermeiden, gibt es Immunsppressiva. Es wird also das Abwehrsystem des Körpers gestoppt.

Sein Arzt ließ ihm wohl gar keine Wahl. Über das Aufklärungsgespräch berichtet Westerwelle nur Andeutungen. Den gelobten Professor zitiert er nur mit der Wertung, dass er mit der schlimmsten Konstellation der bösen Zellen konfrontiert sei. Die Transplantation sei alternativlos. TINA. There Is No Alternitive, das kennen wir aus der Politik von Margret Thatcher. Der Ex-Außenminister stellte offenbar keine Fragen. Oder die Aufklärung war grottenschlecht. Oder der Investigativ-Journalist hat nicht nachgefragt. Offensichtlich gab es auch keine Aufklärung über das Behandlungsrisiko.

Sehr anschaulich schildern die beiden Autoren alle Fragen, die sich mensch so in einer lebensbedrohlichen Situation so stellt. Wie will ich leben. Wo möchte ich noch einmal sein. Wen möchte ich sehen. Für die Frage, wie ich überleben will, müssen wir das Buch von Anja Caspary lesen.

Über die Aufklärung in der Klinik schreibt allerdings José Carreras in seinen Memoiren, Aus vollem Herzen. Er bekam nach der geschilderten Tortur in den 80ern die eigenen Stammzellen zurück. Sein Professor Don Thomas war in Seattle ein Pionier der Transplantation. Er schätzte gegenüber dem Patienten die Überlebens-Chance auf 30 Prozent. Erst später bekam Carreras heraus, dass der Professor geflunkert hatte, es waren zu dem Zeitpunkt nur 15 Prozent.

Der Krebs und die Vernunft

Oft wundern wir uns über Menschen, die in einem Moment vernünftig argumentieren und nächsten Moment Impfungen verweigern, homöopathische Kügelchen loben, Jüd:innen oder Migrant:innen des Mordes verdächtigen . Meine Vermutung: es liegt an der Angst die Kontrolle zu verlieren. Die Kontrolle über das eigene Leben.

Wir wissen: Ein Beispiel beweist nichts. Aber ein schönes Beispiel zeigt, wie es funktionieren kann. Anja Caspary, In meinem Herzen steckt ein Speer, Ullstein ist ein solches Beispiel.

Die Autorin schildert wie schnell eine Krebsdiagnose das komplette Leben verändern kann. Sie schildert zwei Fälle: sich selbst und ihren Mann. Er stirbt recht schnell an einem Gehirntumor, sie überlebt Krebs an bei den Brüsten.

Sie wirft viele kritische Fragen an die herrschende Medizin auf und begründet sie treffend: Wieso gibt es so wenig Ursachenforschung? Statt dessen nur Gepimper an den Symptomen. Wieso geht es mehr darum Brüste zu erhalten, statt das Risiko eines Rückfalls zu minimieren? Sie entscheidet sich – folgerichtig – für das geringere Risiko und lässt amputieren. Wieso wird ein Vernichtugskrieg gegen böse Zellen geführt? Statt zu lernen das Immunsystem zu stärken und rücksichtsvoll zu pflegen.

Sogar empirische Forschung, also reine Statistik, bewertet sie für sich nach logischen Kriterien. Das Mittel, das ein Hormone hemmen soll, greift in ihren gesamten Hormonhaushalt ein. Es verringere einen Rückfall um 67 Prozent, sagen ihre Ärzte. Aber: In dieser Statistik werden die unterschiedlichen medizinischen Risiken eines Rückfalls nicht einzeln betrachtet, sondern zusammengefasst. Formen der Behandlung mit höherer Rückfallquote werden nicht von denen mit geringerem Risiko getrennt betrachtet. Außerdem kann der behandelnde Arzt nichts über schädliche Wirkungen des Hemmens eines Hormons aussagen. Die Autorin pflückt also die Fehler der Forschung perfekt auseinander. Und entscheidet sich gegen das Arzneimittel.

Diese Entscheidung ist grundlegend. Wir alle, die Krebs haben und Rezidive, also Rückfälle fürchten, müssen eine solche Entscheidung fällen: Will ich mein Leben jetzt noch leben, so lange es geht, oder will ich ab sofort leiden? Welches Leid liegt in der empfohlenen Therapieform? Welches Leid vermindert ein empfohlenes Arzneimittel? Welches Leid liegt im Verzicht auf diese Mittel. Wir können diese Entscheidungen manchmal gar nicht so schnell treffen, wie sie uns verschreibungspflichtig gespritzt oder gefüttert werden.

Die erste Prise des Irrationalen schleicht sich an dieser Stelle schon ein. Denn schließlich wolle die Pharma-Industrie daran wieder nur verdienen, betont die Autorin. Klick: Ja das Profitstreben ist allgegenwärtig, dieses Werturteil ist ebenso allgegenwärtig. Als Argument aber nicht tragfähig. Denn Pharma investiert auch unendlich viel in Forschung. So verpuffen Profite im Ungewissen. Die reine Gier würde derlei Investment verhindern. Die Gier steckt in einem spannenden Dilemma. Und ja,. es ist richtig: Was das funktioniert muss auch verkauft werden. Ob es schadet oder nicht.

So weit so rational. Dann sucht sich die Autorin einen Arzt, der „andere Ansätze“ verfolgt. Dieser nimmt sich alle äußeren Einflüsse auf den Organismus vor, die verdächtigt werden, die Entstehung von Krebs zu begünstigen. Merke: Ein solcher Verdacht ist immer nur mit Statistik möglich. Ursachen und Wirkungen kennen wir ebenso wenig Genaues wie über Krebs.

Die Vorlage dafür ist das „Anti Krebs Buch“ von David Servan-Schreiber, einem US-Psychiarter, der selber einen Gehirntumor neunzehn Jahre überstanden hat. Er unterscheidet vier Gruppen von Einflüssen:
1. Ungleichgewichte in der Umwelt schaden dem Immunsystem
2. Die Ernährung müssen Stoffe enthalten, die dem Immunsystem nützen
3. Die „seelischen Wunden“ der Erkrankung wollen behandelt werden
4. Unser Körper soll das Immunsystem anregen, um Entzündungsprozesse zu hemmen

Das war vor zehn, fünfzehn Jahren. Heute ist der Aspekt der Belastungs-Intoleranz hinzugekommen. Sie spielt besonders bei Brustkrebs und Leukämie eine wichtige Rolle. Die Autorin bleibt allerdings im Trend stecken. Sie will ihren Körper optimieren und fit für alle altbekannen Belastungen machen.

Servan-Schreiber legt nahe, mit seine neuen Handlungsoptionen abwägend zu nutzen. Unsere Autorin nutzt den alternativen Ansatz radikal. Sie unterlässt alle Lebensmittel, die mutmaßlich Krebs begünstigen. Statt natürlicher Vitamine in natürlichen Lebensmitteln gibt es Bohnen. Dazu Vitaminpräparate und Mineraliencocktail, die von der richtig: Pharma-Industrie, die von einem Arzt verkauft werden. Die wollen nur helfen. Auch wenn die Industrie viel an kontrollierten Lebensmittelzusatzstoffen verdient. Kleiner Treppenwitz: Was sich billig produzieren lässt, kommt manchmal besonders teuer in den Handel.

Bei einem Schädling kann die Autorin dann allerdings nicht widerstehen: Hasch. Der soll ja gegen die Ausbreitung von Krebszellen helfen. Also hilft sie ihrem Babe ein paar Haschkekse über. Mit niederschmetterndem Ergebnis, vielleicht fehlte in dem „Soll-Ja-Helfen“ die richtige Dosierung. So wie auch beim Rotwein noch nicht die richtige Dosis für seine Wirksamkeit gegen Herzinfarkt gefunden wurde.

Wir müssen in der Situation ruhig bleiben. Das richtige Maß finden. Nicht totalitär jedes Gramm Zucker aus dem Speiseplan verdammen. Viel Bewegung statt Sportleistung wie früher. Raus aus der urbanen Welt der Industrie- und Autoabgase. Weg mit dem Kriegsstress gegen Kolleg:innen und Untergebene.

Die Autorin schreibt sehr offen und offensiv in klarer einfacher Rundfunksprache. Die Lektüre ist erfrischend, lässt mich mitleiden und klick, ja auch den Widerspruch erkennen, der in all unserem Wissen steckt. Doch was bringt uns dazu, dass wir die Rationalität verlassen? Und in fast schon esoterische Enthaltsamkeit abzusinken, statt das Leben, das noch da ist, voll und ganz mit allen Sinnen zu genießen? Das ist die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Die Kontrolle über die eigene Gesundheit, die Kontrolle über das eigene Leben.

Und genau diese Sorte Ängste werden allerorten von diesen grausamen Hassprediger:innen geschürt, hinter denen faschistische Absichten stecken. Nur eine Farce?