Das Rezidiv, 5. Abschnitt

Ein Tagebuch, 5. Abschnitt Hämatologische Ambulanz UKSH

Donnerstag, 15. September 2022

Im Ambulanzzentrum gibt es eine zentrale Aufnahme im Foyer. Du kannst eine halbe Stunde vorher da sein, kommst dann aber trotzdem zu spät.
Eine Stunde später melde ich mich bei der hämatologischen Ambulanz an. Der Doktor habe mir bereits abgesagt, ob ich eine weite Anreise hätte. Ja, mit dem Zug wären es zweieinhalb Stunden. Da meine Frau sich die Zeit genommen habe, mich zu kutschen, war’s nicht so schlimm.

Es gibt einen zweiten Grund, warum es nicht so schlimm ist. Wir verbringen vier Tage in Schwedeneck, ds liegt in der Landschaft Dänischer Wohld. Ganz hübsch, aber heutzutage untypisch für die beiden Namensgeber, denn die Region ist von Kopf bis Fuß mit Militär zugeschissen. Nächstes Mal lieber Amrum. Sechs Tage in einem kleinen, sonnigen Paradies.

Donnerstag, 29. September 2022

Termin im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Kiel. Zu einer nüchternen Betrachtung der Zustände gehört jetzt auch ein persönliches Bekenntnis: Ich habe eine persönliche Abneigung gegen die Region. Sie ist der Urschleim des deutschen Militarismus. Dies wird relativiert durch den Matrosenaufstand 1918, mein Opa schwenkte auf dem Zerstörer Straßburg das Kartoffelmesser. Doch aus diesem Geist ist längst die Korruption der IG Metall geworden, die jeden Rüstungsexport zur Befeuerung der weltweiten Kriege feiert. Die Betriebswirtschaft beherrscht alles, auch die Medizin?

Dennoch ist das erste Gespräch sehr viel angenehmer als meine bisherigen Erfahrungen. Fazit: Wir brauchen weitere Informationen.

Donnerstag, 6. Oktober 2022

Immer wieder die Anmeldung an der zentrale Anmeldestelle. 32 Personen warten. Ich bin die 33. Es dauert durchschnittlich vier Minuten. Als ich mich anmelden darf, ruft die Frau im Kabäuschen meine Daten auf. Wir warten zwei Minuten 30 darauf, dass meine Daten auf ihrem Bildschirm erscheinen. Danach geht alles ganz fix. In 3’30 bin ich durch.

Ein Teil der zusätzlichen Informationen für den untersuchenden Arzt konnte ich beitragen. Einen weiteren Teil hat er selbst Arzt ermittelt. Einiges fehlt noch. Unter anderem die genauere Analyse der Gewebeprobe, die der urologische Chefarzt und seine junge Adjudantin geschossen haben. Ob das von Asklepios beauftragte Privatlabor überhaupt damit begonnen habe, sei unklar. Ob die Analyse bereits abgerechnet ist, wird unter Ärzt:innen sicherlich nicht abgefragt.

Ich schildere, dass ich gerade akute Probleme mit meiner Colitis ulcerosa habe.

Doch so viel stehe fest, sagt der Arzt: Es handele sich um ein Rezidiv der Leukämie. Es gäbe zwei große Unterschiede zu üblichen Rezidiven. Zum einen tritt ein Rezidiv nicht erst zwölf Jahre nach Abschluss der ersten Therapie mit vollständiger Remission auf. Zum anderen war ein Rezidiv am Penis bisher unbekannt.

Die entsprechende Fachkonferenz der Hämatologenbranche sei sich einig, es müsse zumindest eine Konsolidierungstherapie mit Cytarabin gemacht werden. Nur so könne man mein Immunsystem dazu bringen langfristig besser aufzupassen. Was ja wohl bisher misslang. Woher die Sicherheit kommt, dass es diesmal anders wird?

Der Arzt schlägt mir vor, dass ich eine Woche später im Klinikum einrücke, um mich bis in den Januar des folgenden Jahres hinein dreier Zyklen Cytarabin zu unterziehen.

Bevor das losgehe solle ich mich während des Aufenthalts einer erneuten urologischen Untersuchung unterziehen und es solle erneut ein Ganzkörper-MRT gemacht werden.

An diesem Tag bin ich noch nicht bereit mich zu entscheiden. Meine Denkfähigkeit ist blockiert.

Freitag, 7. Oktober 2022

Ich glaube, dass ich meine Denkfähigkeit wiedererlangt hätte und verschaffe mir von meiner Hausarztpraxis die Berechtiigung für einen PCR-Test und die Einweisung für einen Klinikaufenthalt. Aber ich zweifle noch immer.

Abends schauen wir uns einen Beitrag aus dem 3SAT Satire Festival ein. Christian Ehring. Er sagt, dass er das Gesicht von Herrn Putin lieber den Brüdern Klitschko überlassen würde. Ich denke, kein Klitschko-Bruder würde das Angedeutete tun. Dieser Gedanke führt mich zu meiner Denkfähigkeit zurück. Oder vernebelt er mit völlig?

Sonnabend, 8. Oktober 2022

Ich habe Zeit zu reflektieren. Ein Abschneiden meines Penis bin ich durch Zaudern und Zögern entgangen. Die Chemo hat ihn auf sein postnatales Ursprungsniveau reduziert, aber immerhin muss ich keinen Urinbeutel mit mir herumschleppen. Ich plane folgenden Brief:

„Ich bin weder mental noch intellektuell in der Lage zu entscheiden, ob ich erneut drei Zyklen Chemotherapie mitmachen kann und will. Deshalb möchte ich den Termin am kommenden Mittwoch hiermit absagen. Ich habe meine Entscheidung mehrfach überdacht, das Unbeagen überwiegt.

So oft ich in den letzten Monaten danach gefragt habe, habe ich keine Antworten auf meine Fragen bekommen. Welche nachprüfbaren Belege gibt es für Ihre Therapie-Empfehlungen? Die erste Antwort bekam ich in Altona. Es hieß, selbstverständlich sei es so, dass ich das alles selbst entscheiden dürfe. Aber es hätten ja nicht nur ein paar Assistenzärzte über eine Empfehlung zu befinden. Es seien im Hintergrund Oberärzte und Professoren, die sich mit dem Fall beschäftigt hätten.

Nach meinem Verständnis von Wissenschaftlichkeit entscheiden nicht Hierarchie und Expertise über die Qualität von Empfehlungen und Entscheidungen, sondern die Datengrundlage, aus denen diese abgeleitet werden. Und diese kann man mir benennen.

Von ihnen habe ich eine offene Antwort bekommen. Ich habe Sie so verstanden: Es gibt keine nachprüfbaren Belege. Wenn ich in die AML-Richtline schaue nehme ich mit, dass extramedulläre Rezidive ohne Belastung des Knochenmarks oder des periphären Bluts an sich schon selten genug sind. Anscheinend gibt es kaum verlässliche Daten darüber. Ich habe Sie so verstanden, dass extramedulläre Rezidive innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Beendigung der sechsmonatigen Chemotherapie auftreten. Üblicher Weise. Unüblich sei, dass das Rezidiv erst nach elf Jahren auftrete. Unüblich sei auch, dass es an der Glans des Penis auftretet.

Es fehlen offensichtlich aussagekräftige Daten für logisch abgeleitete Empfehlungen. Daher gewinnen bisher unbeachtete Aspekte an Relevanz. Bisher wurde nicht berücksichtigt:
– Das Sarkom an der Glans hatte sich erst nach der doppelten Entnahme einer Gewebeprobe besonders schnell weiter entwickelt und erstreckte sich seitdem über den gesamten Penisschaft.

– Es liegt bei mir eine zweifelsfrei von erfahrenen Gastroenterologen diagnostizierte Colitis ulcerosa vor, mit der ich Tag für Tag seit über zwanzig Jahren Erfahrungen gesammelt habe.

– Ein Psychoonkologe hat sich diagnostisch ein halbes Jahr mit mir beschäftigt und festgestellt, dass ein Verdacht einer Depression nicht bestätigt werden könne. Ob meine Symptome eine Fatigue (Variante A) oder eine normale Alterserscheinung (Variante B) seien könne man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Die Fatigue trete aber mit signifikanter Häufung nach Chemotherapien gegen Leukämie oder Brustkrebs auf. Ich hatte mich bisher für Variante A entschieden. Wenn diese pragmatische Entscheidung falsch sein sollte, will ich sie gerne korrigieren.

Weil ich meine eigene Gesundheit beobachte, kann ich inzwischen unterscheiden, ob ein Gefühl der körperlichen Erschöpfung wegen des Darms auftritt oder ob ein Schleier von Müdigkeit als Fatigue- oder Alterserscheinung das bewusste Denken und Tun hemmt.

Nach Aussage des Psychoonkologen könne man gegen die Fatigue nichts tun. Ich habe es nach Beratung durch einen anderen Psychologen dennoch versucht. Das Führen eines Energietagebuchs hat mir geholfen, Leistungsfähigkeit und Müdigkeit rationaler einzuschätzen. Achtsamkeitsübungen helfen bei plötzlich auftretendem Versagen der Beine. Sogar bei angeblich nicht näher diagnostizierbaren Glieder- oder Kopfschmerzen kann der Mensch mit Achtsamkeitsübungen in einen Dialog mit seinem Gehirn treten. Plötzlich und unerwartet auftretendem Schwindelgefühl oder Taumeln kann ich nicht begegnen und reagiere mit hilflosem Gekicher.

Einer Abnahme des Gedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit, Wortfindungsschwierigkeiten und Wortverwechselungen begegne ich recht erfolgreich mit einem möglichst täglichen Sprachkurs, kreativen Tätigkeiten und autodidaktischer Bildung über moderne Kunst und Architektur.

Meine Ernährung richte ich seit über zwanzig Jahren an den Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung aus. Wegen der Colitis mit einem etwas höheren Anteil von Fleisch und Wurst von 500g bis 750g pro Woche statt 300 bis 500. Industriell verarbeitete Lebensmittel tauchen in meinem Speiseplan kaum noch auf. Mein Gewicht habe ich kontinuierlich von 105 kg auf 85 kg gesenkt, das Ziel von 80 kg ist noch nicht erreicht.

Es fehlt der Sport, der nach Aussagen der einzigen deutschen Expertin bei Fatigue kontraproduktiv sein kann. Viel zu Fuß gehen und Gartenarbeit müssen reichen.

Während der ersten Indukktionsrunde in Altona hatte ich bereits erhebliche Darmprobleme. Sie dauern bis jetzt an. Sie sind es nicht wert, in Arztbriefen von Hämatolog:innen aufzutauchen. Dass ich dieses Manko immer wieder reklamiere wird ignoriert. Ist das für die Expertenrunde, in der mein Fall besprochen wurde, ein Thema?

Kann die Expertenrunde, in der mein Fall besprochen wurde, zu den Auswirkungen einer zweiten Cytarabingabe auf eine vorliegende Fatigue-Symptomatik (Variante A) etwas sagen? Oder (Variante B) müsste mein Fall behandelt werden wie der eines über 75-jährigen? Dann spielten andere Therapieziele auf der Agenda, als einem Verlust der im Moment bestehenden vollständigen Remission vorzubeugen.

Ich persönlich möchte zunächst, dass sich ein:e Gastroenterolog:in mit meinem Darm beschäftigt. Spricht aus hämatologischer Sicht etwas dagegen?“

Achtung Humor: Das wird man alles doch wohl noch mal fragen dürfen.

Montag, 10. Oktober 2022

Ich schicke den Brief ab.

Mittwoch, 12. Oktober 2022

Ich bekomme die Anwort.

„Ich bedauere Ihre Entscheidung, akzeptiere sie aber selbstverständlich.
Hoffen wir, dass sie auch in der Zukunft keinen Bedarf für hämatologische Diagnostik und Therapie haben.
Falls doch, stehen wir bereit!
Ihr …

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Mittwoch, 12. Oktober 2022

Der Arzt des UKSH schreibt zu meiner Absage einer weiteren lang anhaltenden Chemotherapie: „Ich bedauere Ihre Entscheidung, akzeptiere sie aber selbstverständlich.
Hoffen wir, dass sie auch in der Zukunft keinen Bedarf für hämatologische Diagnostik und Therapie haben.
Falls doch, stehen wir bereit!“

Ich hatte so viele Fragen gehabt, wo finde ich die Anworten dazu?

Ich erinnere mich, dass mit im UKSH ein Vertrag angeboten wurde: „Vertrag zur Besonderen Versorgung – Shared Decision Making“ Darin heißt es:
Ihre Vorteile auf einen Blick:
– Sie kommunizieren mit Ihren Ärzt:innen auf Augenhöhe.
– Ihre Behandlung ist auf Ihre persönlichen Bedürfnisse und Wünsche abgestimmt.“
– Sie erfahren mehr zu Ihrer Erkrankung und Ihren Behandlungsalternativen und sind aktiv am Entscheidungsprozess beteiligt.“

Mmh, dazu bedarf es eines besonderen Vertrags?

Fragen zu diesem merkwürdigen Vertrag darf ich der Techniker Krankenkasse nur telefonisch stellen. Barrierefreie Kommunikation, die mindestens einen zweiten Kommunikationsweg vorsieht, ist bei der TK unerwünscht.

Der Vertrag ist ein urheberrechtlich geschütztes Werk mit dem ausdrücklichen Verbot, es zu veröffentlichen. Welche Informationen wollen Krankenkassen und Krankenhäuser damit einer privatwirtschaftlichen Zensur unterwerfen?

Gegen den Willen der TK schreibe ich einen Brief an die TK:

„am UKSH wurde mir ein Zusatzvertrag mit dem oben genannten Titel angeboten. Ich habe nicht verstanden, worum es dabei geht. Mir werden darin Vorteile genannt:
‚- Sie kommunizieren mit Ihren Ärzt:innen auf Augenhöhe.
– Ihre Behandlung ist auf Ihre persönlichen Bedürfnisse und Wünsche abgestimmt.“
– Sie erfahren mehr zu Ihrer Erkrankung und Ihren Behandlungsalternativen und sind aktiv am Entscheidungsprozess beteiligt. ‚
Pflichten entstehen mir daraus offensichtlich keine. Ist das richtig?
Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Kommunikation auf Augenhöhe gewährleistet werden kann. Ich habe in einem seit Ende Juni andauernden Prozess im Zusammenhang eine Akuten Myeloischen Leukämie sehr viele Fragen gestellt. Antworten wurden mir regelrecht verweigert.
Bedarf es eines solchen Vertrages, um von der Ärzt:innenschaft solche Antworten zu bekommen?
Dürfen mir ohne einen solchen Vertrag Behandlungen aufgedrängt werden, die gegen meine persönöichen Bedürfnisse und Wünsche gerichtet sind?
Welche Informationen zu meiner Erkrankung und zu Behandlungsalternativen werden mit üblicher Weise verweigert?“

Montag 17. Oktober 2022

Das Asklepios-Klinikum St. Georg hatte ich vor drei Wochen gebeten, mir zur besseren Möglichkeit der Diagnose den Arztbrief von 2010 zukommen zu lassen. Mit den Einweisungen zur stationären Behandlung sind sie fix, es müsse ja alles so schnell gehen, weil die Krebse so schnell sind. Aber es hat System: Informieren können dieselben Ärzt:innen und Kliniken nur per Schneckenpost. Per E-Mail geht das nicht.

Ich gebe die Infos an den untersuchenden Arzt weiter: „danke für ihr Verständnis.
Jetzt habe ich am Wochenende vom AK St. Georg den angefragten Entlassungsbericht bekommen.
Ich hatte ihn am 30. September von dort erbeten. Sie finden ihn im Anhang an dieser MailIch wäre ihnen sehr dankbar, wenn Sie Ihre Befunde meinem Hausarzt mitteilen würden.
Bitte teilen Sie uns auch Ihre Empfehlungen für weitere Untersuchungen zur Remissionskontrolle mit.
Die anderen offenen Fragen versuche ich, beim Krebsinformationsdienst in Heidelberg zu klären.“