6. Abschnitt zurück beim Hausarzt
Sonntag, 2. Oktober 2022
Bevor ich erneut mit meinem Hausarzt spreche, passiert ein Unglück. Eine Freundin ist zu Besuch und muss vorzeitig abreisen. Ich raste zu leicht aus. Was ist passiert?
Warum ich Hämatolog:innen vertraue
Wenn ich mit Fachärzt:innen der Hämatologie rede, weiß ich warum sie so handeln, wie sie handeln. Auch wenn sie in meinem Fall nicht hundertprozentig verstehen mag. Ich habe bei meiner Erstbehandlung andere Menschen kennengelernt, die an sehr, sehr seltenen Formen von bösartigen Krankheiten des blutbildenden Systems gestorben sind. Vorher hatten die Ärzt:innen alles versucht, was sie in ihren Therapieplänen stehen haben:
– verschiedene Gifte, die den halben Organismus schädigen, vorsichtig in die Kranken einträufeln und die Erholung dieser Organismen behutsam und mit aller Vorsicht begleiten;
– passende Stammzellen anderer Menschen in Datenbanken suchen, abwägen, ob und wie gut es passt, dann transplantieren. Die Nachsorge nach einer solchen Stammzelltransplantation ist ein ungeheuer schwieriger Prozess, in dem alles in dem Organismus, aber auch wirklich alles schief gehen kann;
– die eigenen Stammzellen der Patientin aus dem Blut isolieren und nach vorbereitenden therapeutischen Schritten wieder zurückverpflanzen;
das sind die bekanntesten Varianten.
Bei meiner Ersttherapie habe ich erlebt, wie mich die Mutter eines Betroffenen regelrecht angeschnauzt hat, warum es mir denn verdammt noch mal so gut gehe und ihrem Sohn nicht. Bei ihrem Sohn hat keine Therapie gewirkt, er ist nach kurzer Zeit verstorben.
Jeder Patient, jede Patientin, die eine Leukämie oder eine andere dieser hämatologischen Erkrankungen überlebt, ist ein Erfolg dieser Fachrichtung. Einfach nur überlebt, nicht mehr. Es hat lange gedauert, bis das überhaupt möglich war und die Therapien werden immer besser. Das ist nur möglich, wenn wir Menschen mit den gesammelten Erfahrungen besonders sorgfältig umgehen. Wir müssen solche Erfahrungen immer wieder kritisch bewerten. Dafür gibt es Konzepte, die ursprünglich in der Philosophie erdacht wurde. Nur so kommt die wissenschaftliche Medizin Schritt für Schritt voran.
Jetzt hat das Verftrauen in die wissenschaftliche Medizin einen Knacks bekommen. Und ich keine Antworten auf meine Fragen.
Warum ich nie zu Heilpraktiker:innen gehe
Oft wird diese wissenschaftliche Medizin als „Schulmedizin“ verächtlich gemacht. Dagegen habe ich etwas. Laut Küchenphilosophie weiß jede Mutter besser als jede andere Ärztin, was gut sei für ihre Kinder. Bei jeder Wunde werden ein paar Zuckerkügelchen in den Mund des Kindes geworfen, und dann können wir zukucken, wie schnell die Wunde heilt. Meine Mutter konnte das sogar noch besser und vor allem billiger. Sie hat gepustet und ich durfte sogar mitpusten. Der Effekt war derselbe wie Zuckerkügelchen. Letztere müssen allerdings besonders teuer sein, das steht dann homöopatisches Heilmittel drauf, das eber keinen Wirkstoff enthält. Wer wissen will, wie man das besonders teuer macht, schaut in die ZDF-Mediathek.
Zur Küchenmedizin gehören viele solcher Lehrsätze. Sie nehmen sich immer ein Beispiel her, und dieses Beispiel soll dann für das Ganze stehen. „Wenn ich Arnika-Kügelchen nehme, dann sind die Blutergüsse immer kleiner als ohne Kügelchen.“ Tja, dann nimm doch bitte bei ein- und demselben Bluterguss einmal Zuckerkügelchen ein und einmal nicht. Ähnliche Leersätze lauten: „Die Energiekreise des Buddhismus sind wissenschaftlich erwiesen.“ „Ich habe meine Schwester eine Nadel ins Ohrläppchen gestochen und ein halbes Jahr später waren ihre Hämorrhoiden plötzlich eingezogen.“ Finde den Fehler!
Wenn mir in eine:r so etwas um die Ohren hat, kann es passieren, dass ich ausraste. Aber diese Stereotypen genügen manch_innen ja nicht. Viele bezeichnen den kritischen Umgang damit, wie Erfahrungswissen entsteht, dann auch abfällig als „westliche Art des Denkens“, der die jahrtausende alte östliche Weisheit gegenüber gestellt wird. Und mokant wird dann bemerkt, dass sich diese östlichen Weisen so gnädig erweisen, die Prüfung ihrer Weisheit durch die westliche Art des Denkens zulassen. Sorry, das kann ich alter weißer Boomer in bestimmten Situationen nicht ertragen.
Mein Hausarzt weiß es besser
Freilich gibt es auch in anderen Kulturen Traditionen der Naturmedizin. Die Kurkumawurzel zum Beispiel. Wie viele natürlich vorkommende Stoffe wird auch das Kurkumin seit Ende des 19. Jahrhunderts auch chemisch erforscht. Als Wirkstoff für den menschlichen Organismus war es lange Zeit nicht sonderlich ergiebig und wurde schnell umgewandelt. Erst in den letzten Jahren wurde ein Weg gefunden, so dass das sogenannte Mizellenkurkumin auch ohne Nebenwirkungen im Darm leicht aufgenommen werden und seine positive Wirkung entfalten kann. Hier ein Link auf die fürchterliche westliche weiße Sichtweise auf das östliche Heilmittel. Mein Hausarzt weiß das alles, ich kann ihm vertrauen. Und sein Computer weiß sogar, ob die Krankenkasse einen Zuschuss bezahlt. Sein Computer sagt ja. Die Krankenkasse sagt nein.
Dienstag, 11. Oktober 2022
Gespräch mit dem Hausarzt. Ich schildere zu welchem Ergebnis ich gekommen bin, dass ich keine Konsolidierungstherapie mit Cytarabin machen möchte. Noch rumore die Colitis in mir, ich habe mich nicht erholt, ich scheue eine Verstärkung der Fatigue-Symptome.
Mein Hausarzt hat Verständnis. Er selbst könne niemanden mehr ins Krankenhaus schicken, um“einfach mal richtig durchgecheckt zu werden“. Dies sollten Krankenhäuser nicht mehr leisten. Die Fachärzt:innen seien auf ihr Spezialgebiet fokussiert. Sie schauten nicht mehr links oder rechts. Dies müssten jetzt die Hausärzt:innen leisten.
Die Hämatologie arbeite mit sogenannten Protokollen, an deren Abläufe sich die behandelnden Ärzt:innen hielten. Diese Protokolle seien vergleichbar mit Algorithmen, die wie überall gute Dienste leisten könnten. Gleichzeitig ziehen solche Algorithmen auch überall sehr viel Kritik auf sich. Ich wäre also kein unbelehrbarer alter weißer Mann, sondern passe als seltener Fall nicht so einfach in die Algorithmen.
Er unterstützt mich mit therapeutischen Ratschlägen für die Colitis. Der solle ich zunächst einmal meine Aufmerksamkeit zuwenden, wenn sie mich zu stark belaste. Eiweißhaltiges Essen, gerne richtig satt essen, der Körper benötige dies, um Schleimhäute und alles andere, das die Chemo zerstört hätte, wieder aufzubauen. Getrost solle ich eine leichte Gewichtszunahme zu Gunsten anderer wichtiger Körperfunktionen in Kauf nehmen. Plus Vitamin B12, vielleicht auch hochkonzentriertes Kurkuma, sobald ich die Dosis meines Medikaments wieder verringere. Wenn ich wieder mit meinem Darm im Reinen sei, könnten wir weiter sehen.