Tagebuch, 3. Abschnitt Hämatologische Station
Sonnabend, 30. Juli 2022
Dank 9-Euro-Ticket verleben wir einen herrlichen Tag an der Hörnum Odde, auf der ganzen Insel Sylt ist eine entspannte Atmo. Auf dem Rückweg essen wir in Niebüll Pizza.
Sonntag, 31. Juli 2022
Noch ein herrlicher Tag, heute auf Föhr. Für eine stationäre Behandlung habe ich ausreichend Energie getankt. Eigentlich stünde einem harmonischen Aufenthalt in der Klinik jetzt nichts im Weg. Wir schaffen das.
Dienstag, 2. August 2022
Ich soll vor 10 Uhr in der Klinik erscheinen. Hab‘ ich gemacht. Mein Bett ist noch nicht gemacht. Dafür zeigt mir die Pflegedienstleitung die Wasser- und Kaffeeversorgung sowie die Küche der Station. An einem Tisch am Ende des Flures sollte ich Platz nehmen, bis das Bett frei sei. An diesem Tisch im Flur findet dann das Aufklärungsgespräch statt. Anscheinend ist eine einzige Ärztin anwesend. Sie wird mehrfach vom Job der Aufklärung abberufen und kommt entschuldigend zurück. Ich habe wenigstens die Zeit, alles einmal zu lesen. Ein Zusammenhang mit all meinen Befunden wird nicht erörtert, es geht lediglich um all das Zeug, das der Klinik ein haftungsfreies Leben zusichern soll. Anscheinend treffen andere Ärzt:innen im Hintergrund alle Entscheidungen, ohne mich zu kennen. Ich bekomme nur ausführende Assistenzen zu Gesicht.
An diesem Tag legt mir die Ärztin einen Zugang in eine Vene am Hals, extra Unterschrift, ja ich weiß dass etwas schief gehen kann. Ein junger Mann, der ein freiwillige Jahr leistet, darf zuschauen. Sein assistierendes Eingreifen weiß die Ärztin klar zu unterbinden. Ihre Arbeit fühlt sich gut an. Schließlich weiß ich noch aus der Vergangenheit, dass sich das gute Gefühl bei einem Zentralen Venenkatheter nicht immer einstellt. Sie gehört zu den ganz sorgfältigen, die meistens ihre Grenzen gut kennen, aber Ironie nicht so gut vertragen.
Mittwoch, 3. August 2022
Der erste Zyklus der Chemotherapie beginnt. Sieben Tage lang soll über 24 Stunden eine farblose Flüssigkeit in meine Vene träufeln. Die Krankenhausapotheke liegt im äußeren Norden der Stadt, wir sind im äußeren Westen. Es wird abends geliefert. Nach dem Abendessen. Auch mein Arzneimittel für meinen chronischen Darm wird nach dem Abendessen geliefert, obwohl sie eine Stunde vor der Mahlzeit einzunehmen ist. Hämatolog:innen müssen das nicht wissen, das ist Sache der Gastroenterolog:innen und der Apotheker:innen. Aber die Apotheker:innen von Asklepios denken nicht darüber nach, wann ihre einzeln in Plastik verpackten Tabletten bei den Menschen ankommen. Auf den mit „Asklepios“ gebrandeten Wasserflaschen aus Mildstedt steht, dass wir lieber dem Asklepios-TV vertrauen sollen als Dr. Google. Über Dr Google kann ich leicht herausbekommen, werte Reklamepuster:innen, die ihr für Asklepios arbeitet, dass Mesalazin vor dem Essen eingenommen wird. Vermutlich solltet Ihr lieber an Reklame-TV sparen als am medizinischen Fachpersonal. Es gibt viel Werbeschwachsinn, der mich wütend macht. Der Dummfug auf Asklepios Wasserflaschen macht mich wütend.
Meine Chemo wird am ersten Tag nach acht Uhr abends aufgehängt. Zwischen mich und den Beutel wird ein steinschwerer Infusomat geschaltet. Der Infusomat tutet laut, wenn ihm etwas nicht gefällt. Es dauert eine Stunde, bis das Gerät tut, was es soll, und nicht mehr tutet. Seine Wartungsfrist ist seit vier Monaten abgelaufen. Werbe-TV ist halt teuer. Nach einer Stunde entschließt sich die Technik also, die Tröpfchen korrekt an mich abzugeben.
Donnertsag, 4. August 2022
Bin ich das oder ist es das Essen, was hier verabreicht wird? Es schmeckt zum Kotzen. Das meiste wird mit Soßen überdeckt. Die Soßen sind bereits fester Pudding geworden, anscheinend bestehen sie aus Wasser, Stärkemehl, Farbe und Aromastoffen. Schiebe ich diesen Soßenpudding beiseite, zerfällt Fisch oder Fleisch in einzelne Fasern, Gemüse und Kartoffeln verwandeln sich in eine grobfaserige Pulvermasse, wenn ich mit der Gabel einpiekse.
Am Abend schafft es die Ärztin im Spätdienst wieder nicht, meinen Infusomaten zur Mitarbeit zu überreden. Es wird eine weitere Stunde später. Das Gerät wird nun etwas schneller eingestellt. Na, mal sehen, ob es jetzt klappt.
Freitag, 5. August 2022
Jetzt muss die Nachtschicht ran, den Infusomaten mit dem dritten Beutel in Gang zu setzen. Die Ärztin ist nicht vom Fach, sie kennt sich damit nicht aus. Sie bittet die Krankenpflegerin um Hilfe, aber die bekommt es auch nicht hin. Das müsse eine Ärztin machen. Tja, jetzt muss die Kardiologin wieder ran. Ich berichte, was ihre geübteren Kolleginnen alles unternommen haben, um das mangelhaft gewartete Gerät zu Mitarbeit anzustiften. Sie ist mir dankbar, das klingt ehrlich. Fachlich versierte Ärzt:innen, das wäre wohl auch in der Nachtschicht eine prima Idee, zumindest wenn auch die Apotheke schon kaputt gespart ist.
Sonnabend, 6. August 2022
Der Infusomat wird ausgetauscht. Zu oft macht er nachts sein Spektakel. Ob es wohl jemandem auffallen wird, dass die Wartungsintervalle für diese Geräte vernachlässigt werden? Ich habe jetzt ein Gerät, das erst im laufenden Monat gewartet werden soll. An drei Tagen tropft jetzt eine weitere rot gefärbte Flüssigkeit bei mir rein. Es macht Kotzgefühl. Wir sind jetzt so weit, dass sich mein Unterhaltungsprogramm Infusomat nur noch nachts abspielt. Haben Sie gut geschlafen? Nein, mein Nachbar schnarcht, da kann ich bei den vielen infusomatischen Unterbrechungen schlecht wieder einschlafen.
Montag 8. August 2022
Zu meinen üblichen Beschwerden sind anhaltende Kopfschmerzen im präfrontalen Cortext hinzugetreten. Ich werde sie nicht los. Eine Neurologin wird bestellt, sogar die Frage nach dem heutigen Datum kann ich bewältigen. Heute ist 88:22=4 Ich soll ein MRT des Kopfes bekommen.
Donnerstag, 11. August 2022
Bis zum Ende des ersten Chemozyklus sind aus sieben Tagen fast acht Tage geworden. Es ist vorbei. Jetzt dürfen die wichtigsten Zellen im Blut langsam alle absterben, ohne das neue hinzukommen. Eigentlich ist mein Blut halbtot.
Nun wird auch mein Kopf ins MRT geschickt. Anfangs war es ein Ganzkörper-MRT. Ohne Kopf. Auch mein Kopf ist o.k. Gegen die Kopfschmerzen darf ich Ibuprofen ordern, weil Paracetamol zusätzlich das Fieber senken würde. Und Fieber möchten Ärzt:innen gerne erkennen können, um frühe Anzeichen eines Infekts zu bemerken.
Freitag, 12. August 2022
Mein Brechreiz ist nicht mehr aufzuhalten. Aus dem Bett habe ich drei Schritte bis zum Klo, nach zwei Schritten tritt die gallige Masse aus und spritzt alles voll. Mein aufmerksamer Zimmerkollege verständigt die Pflege. Die Pflegerin verfrachtet mich zurück ins Bett und beseitigt den Speisenbrei vom Fußboden.
Sonnabend, 13. August 2022
Der Putzdienst ist durch. Auf Reklametafeln wird in jedem Zimmer genau beschrieben, wofür beim Putzen blaue, rote und gelbe Tücher benutzt werde. Auch diese Asklepios-PR ist Unsinn. Alle horizontalen Oberflächen werden mit einem farblosen Desinfektionstuch abgewischt. Vertikale Flächen bleiben unberührt. Die Kachelwände im Badezimmer müssen wohl nie gereinigt werden. Auch wenn einer dagegen kotzt. Wir lassen den Putzdienst erneut verständigen. Die Frau, die erscheint, hat ein paar Desinfektionstücher dabei. Sie verabschiedet sich mit der Bemerkung, sie könne nicht alles entfernen. Somit ist eines sicher: der Dreck bleibt, hat aber ein Desinfektionstuch gesehen.
Patient:innen müssen in Kauf nehmen, dass die Wände im Zimmer ziemlich versifft aussehen. Besonders über dem Klapptisch, an dem gegessen werden soll. Vor ein paar Jahren ist der Fernseher erneuert worden. Der neue Fernseher hat neue Löcher in der Wand bekommen, alte Zentimeter große Löcher stehen für die Besiedlung durch Keime offen zur Verfügung. Die onkologische Station, die eigentlich möglichst keimfrei sein sollte, stellt ihre Heilungsobjekte vor eine besondere Herausforderung. Die Rückseite des Fernseher strotzt vor Dreck und grauen Wollmäusen. Ist halt vertikal. Hier wird nur horizontal gewischt.
Sonntag, 14. August 2022
Die Tage ziehen ohne mein bewusstes Erleben über mich hinweg. Fieber, Schlaf, dann Schlaf und Fieber. Mein Schatz sitzt zwei Mal fünf Stunden neben mir, streichelt mich und sieht mir beim fiebrigen Schlafen zu.
Montag, 15. August 2022
Ein Arzt und eine Ärztin wollen den Ursprung der Diagnose noch einmal sehen. Ich sage, dass ich die Vorhaut nicht über die Glans gezogen bekomme. Dies könne einem Arzt vielleicht mit einem griffigen Handschuh gelingen. Es gelingt. Ich sehe die Noch-Nie-Gesehen-Blicke, darin bin ich inzwischen Experte. Ich bitte darum, dass ich mich erst dort waschen dürfte, allein bekomme ich die Vorhaut ja nicht zurück.
Dienstag, 16. August 2022
Das war ein Fehler. Der Penisschaft schwillt wegen des Blutstaus absurd rot und monströs an. Ab in die Urologie. Ich gebe zu, ich hab’s mit meinem Hygienewahn verbockt. Zum Glück tut’s nicht weh.
Mittwoch, 17. August 2022
In der Urologie erfahre ich das gewohnte Bild. Ein Team neugieriger Blicke schließt wie ein Volleyballteam einen Kreis um mich. Irgendjemand fragt mich, ob mir schon düselig werde, NEIN! Trotz des Wundermittels Propofol. Ein Arzt bepackt meinen rot glühenden Penis mit Kühlelementen und schließt die Vorhaut wieder „Oh, die ist jetzt aber schon ganz schön aufgerissen.“ Während ich extrem laut ausgeschrien habe, hat sich das gesamte Volleyballteam verpieselt. Als mein Bett aus dem Zimmer rausgefahren wird, wird mir endlich ein bisschen düselig. Ich lande in einem Aufbewahrungszimmer. Hier führen Ärzte mit bulligen Stimmen Aufklärungsgespräche über diverse urologische Krebse. Ich frage nach Wasser, die Helferin will sich erkundigen, ob ich Wasser haben darf. Ich darf.
Nachdem im Zimmer schon alle anderen Betten einmal ausgetauscht worden sind, wird endlich mein Name aufgerufen. Ein Transportarbeiter soll mich abholen. Sofort flieht er wieder aus dem Zimmer, weil drei Klingelgeräusche an seinem Körper um die Wette läuten. Ich muss erneut warten.
Jetzt muss ich Wasser lassen und drücke den roten Knopf. Ich muss auf Klo. Auch das darf ich. Für meine nackten Füße bekomme ich Plastiksocken. Sonst ist ein Krankenhausfußboden mit allen seinen Keimen zu gefährlich für nackte Füße. Die Klotür ist verschlossen. Kommse mal mit. Die Pflegerin geht vor. Ich verlasse das Zimmer und kann dasselbe Klo vom Flur aus betreten. Ein Klo zwei Türen. Sie öffnet, ich tappel plastikfüßig hinterher, verriegele die Flurtür, die Pflegerin geht zum Zimmer wieder raus, ich schließe auch Tür zwei. Das ist doch bühnenreif. Wie viel Slapstik ist hier möglich? Nach dem Hände-Waschen nutze die Chance und verlasse meine Folterkammer Urologie den Flur hinaus.
Das hätte ich nicht tun dürfen. Als der Transportarbeiter mein Bett wiederbringt, das ich in der Urologie hinterlassen hatte, schnauzt er mich auf meiner Station an. Was ich machte, das gehörte sich nicht. Ich hätte Bescheid sagen müssen. Im Zelltief unter leichter Narkose denkt Mann noch nicht einmal dran, dass Mann im Zelltief unter leichter Narkose ist. Ich kläffe zurück, mein Bettnachbar will schlichten, aber Transport und ich scheiden voneinander mit drohenden Reden…
Naja, die Transportarbeiter sind ja auch arg gebeutelt. Manchmal sind nur zwei Fahrstühle einsatzbereit. Einer ist seit einem Jahr außer Betrieb, wartet auf ein Ersatzteil aus Amerika. Im Realsozialismus hätte man das als Systemversagen des Realsozialismus gewertet. Egal wie: Die Bettentransporte stehen sich im Treppenhaus die Füße platt. Wartezeiten bis zu einer Stunde. Deshalb können sie auf den billigen Etagen mit den Kassenpatient:innen ihre Arbeit nicht korrekt erledigen. Und dann greift auch noch ein eingebildetes Folteropfer zur Selbsthilfe, so geht das aber nicht. Wir leben halt in einer kapitalistischen Mangelwirtschaft.
Sonnabend, 20. August 2022
Noch immer im Zelltief. Mein Brustkorb wird von innen fotografiert. Auch dort bin ich so normgerecht wie im Kopf.
Ich habe die verdi-Zeitung ‚publik‘ auf meinen Rollcontainer neben dem Bett gelegt. So nach und nach öffnen sich die Gewerkschaftsmitglieder. Streik nütze nichts mehr in diesem Laden. Kürzlich hätte die gesamte Pflege der beiden obersten Etagen en bloc gekündigt. Offenbar hat der Personalmangel im Hause Asklepios weniger mit Corona zu tun als mit Ausbeutung.
Mittwoch, 24. August 2022
Eigentlich soll sich mein Blut langsam erholen. Eine positve Nachricht über meine Blutwerte sollte eigentlich mein nächster Event werden. Statt dessen stehen plötzlich und unerwartet so gegen 11 Uhr zwei freundliche junge Erwachsene in roter Uniform mit grobsohligen Schuhen an den Füßen in unserem Zimmer. Nein die beiden sind nicht nur freundlich, die sind richtig fröhlich, gemeinsam haben sie Freude an dem was sie tun. Sie sollen mich von Altona nach St. Georg transportieren. Das wissen sie, ich weiß nicht warum. Als ich danach frage, ist weder eine Ärztin noch ein Arzt zugegen. Die Transportarbeiterinnen des ASB sagen, sie hätten eine Stunde für den Transport zur Verfügung. Ob ich nicht einfach mal mitkommen wolle. Ich witzele, ich hätte noch eine gültige Chipkarte für die Metro in Lissabon dabei. Das schaffen wir mit der lahmen Kiste nicht, die wir heute fahren müssen, sonst gerne, Lissabon ließen sie sich gefallen. Während der Fahrt haben sie mich gut unterhalten. Aufmerksame, wache junge Leute. Die machen mir Hoffnung, die Welt hat eine Zukunft. Wir lachen viel.
11 Uhr 30 liefern sie mich in der Hämatologie in St. Georg ab. Sie erklären, sie seien für 14 Uhr zum Rücktransport angemeldet. „Das können sich sie abschminken“, sagte die Wachhündin hinter Glas patzig, den Termin könnten sie streichen. „Sie sehen doch, was hier los ist.“ Höflich aber bestimmt sagen die beiden jungen Frauen vom ASB, es sei nicht ihr Job die Bestellungen aufzugeben oder zu stornieren. Sie führten diese Bestellungen nur aus. Sie benötigen volle zehn Minuten, um der blonden Hündin klar zu machen, dass die Verantwortung fürs Abbestellen bei ihr läge. Trotz Überlastung storniert sie den Auftrag. Jetzt erlebe ich einen Augenblick der Rührung. Die beiden jungen Frauen kommen noch einmal zu mir, um sich zu verabschieden und mir alles Gute zu wünschen. Und sie bedanken sich für die gute Unterhaltung. Unsere Welt hat eine gute Zukunft, die jungen Leute können das einfach besser als wir alten Kackes.
Wegen meiner Benommenheit und noch akuten Gefährdung angesichts meiner niedrigen Blutwerte hatte ich mich nicht in das übervolle Wartezimmer, sondern auf den Flur gesetzt. Ich machte Atemübungen für die Konzentration, um in einem Gespräch nicht ganz die Löffel abzugeben. Sind PatientInnen in einer solchen Situation überhaupt in der Lage rationale Entscheidungen zu treffen? Ohne Anwesenheit ihrer vertrauten Personen? Für ernsthafte Beratungsgespräche? Ich nicht! Ich denke an Putins Demokratie.
Eines nervt mich. Die Hündin hinter Glas schnauzt mit Menschen, deren deutsch etwas verunsichert klingt, herum. Einer Frau, die mit ihrem Angehörigen im Rollstuhl russisch spricht, war ich bereits begegnet. Ich hatte ihr das Behindertenklo gezeigt. Sie hatte mir akzentfrei auf deutsch gedankt, und ich hatte mich einem paschalsta revanchiert. Niemand muss die Frau so ankläffen: „Nicht hier warten, da hinter den Strich.“ Niemand muss so etwas sagen.
In der Wartezeit bekomme ich Hunger. Um 13:30 Uhr frage ich nach Essen. Das müsse ich mir im Bistro selbst kaufen. Mein anarchistischer Widerstandsgeist ist geweckt. Ich erkläre, dass ich die Klinik jetzt verlassen und mit Bus & Bahn nach Altona fahren würde, dort bekäme ich etwas zu essen. Dass mein Schatz mit dem Henkelmann zu Besuch kommen würde, verrate ich ihr nicht. Die Frau hinter dem Tresen ist sprachlos und tut nichts, mich aufzuhalten. Bis zum Öffnen der Tür hat sie ihre Kinnlade noch nicht wieder in Normalstellung gebracht. Ich genieße eiskalt den Moment. Gut so, draußen ist es pottwarm. Ich halte Abstand zu anderen Menschen, die all ihre Keime absondern. Ab Altona fahre ich dann sogar mit meinem Schatz zusammen im Bus zur Klinik. Ohne Abstand. Ist das ein Zeichen? Ja, wir sind ein tolles Team!
Hinterher erfahre ich, es wäre um eine Beratung für eine Stammzelltransplantation gegangen. Die Begründung für diese Maßnahme versuchen mir hinterher mehrere Ärztinnen und Ärzte zu erklären.
Den ersten treffe ich noch an diesem Mittwoch. Ich stellte ihm dar, dass ich von drei wesentlichen Befunden gehört hätte.
1. Gewebeprobe aus dem Penis mit noch ausstehenden molekularen Untersuchungsergebnissen
2. Knochenmarkspunktion ohne Befund
3. MRT zeigt leicht vergrößerte LeistenLympfknoten
Er bestätigte dies und erklärte darüber hinaus, dass man noch nicht wisse, ob es sich um ein Rezidiv der alten AML handele oder um eine andersartige Leukämie. Dennoch müsse wohl eine Stammzelltransplantation eingeleitet werden.
Donnerstag, 25. August 2022
Eine Ärztin fügte hinzu, dass die Besorgnis daher rühre, dass Leukämiezellen nun einmal enorm aggressiv seien.
Freitag, 26. August 2022
Der Arzt am Freitag versicherte mir, dass man noch viel mehr wisse und mein Fall gar nicht so selten sei, wie ich wohl dächte. Im Hintergrund hätten sich schließlich nicht nur Assistenzärzte damit befasst, sondern eben auch Oberärzte, Chefärzte und sogar Professoren. Das Ergebnis des MRT mit leicht vergrößerten Lymphknoten spiele überhaupt keine Rolle. Egal wie die genauen Befunde aussähen, eine Stammzelltransplantation sei in jedem Fall indiziert. Selbstverständlich sei dies ja alles meine persönliche Entscheidung, ich dürfte das selbstverständlich alles selber entscheiden. Aber er könne mir nur raten, dem zuzustimmen, was andernorts für vorgeschlagen werde.
Konkrete Daten für eine rationale Risikoabwägung konnte er mir nicht geben. Hier sehe ich den Widerspruch zur Behauptung, mein Fall sei gar nicht so selten. Bei hoher Fallzahl vergleichbarer Situationen wären präzise Angaben möglich. Die kann oder will er mir nicht nennen. Allerdings bin ich durch die dahingeschnodderten Aussagen des Arztes stark verunsichert. Was bedeutet: „… nicht nur ein paar Assistenzärzte …“? Habe ich es hier tatsächlich nur mit Hilfsdödeln zu tun, die frisches Blut in die Blutbahn laufen lassen dürfen und sonst nichts? Muss man erst im Zelltief mit Tatütata in ein anderes Klinikum gebracht werden, um mit fachkundigem Personal sprechen zu dürfen? Hat diese Station überhaupt noch das Recht, sich Fachzentrum Hämatologie nennen zu dürfen?
In der derzeit gültigen Richtlinie zur Behandlung von AML lese ich, dass bei Rezidiven der AML grundsätzlich eine Stammzelltransplantation empfohlen werde. Allerdings stehen dort auch noch zwei ganz wesentliche weitere Informationen:
– Für Entscheidungen über die Art der Therapien werden in jedem Falle die Therapieziele und Wünsche des Patient:innen gleichwertig mit den Befunden der ärztlichen Teams berücksichtigt.
– Rezidive treten üblicher Weise zwei Jahre nach Abschluss einer Chemotherapie auf. Über extramedulläre Rezidive werden keine konkrete Angaben gemacht, es gibt auch keine Fußnoten, also wohl nur sehr wenige Erfahrungen. Ein „Wissen-Wir-Nicht“ müssen wir Lai:innen immer zwischen den Zeilen herauslesen. An dieser Stelle ist das so.
Zwölf Jahre nach Erreichen der vollständigen Remission ist ein Rezidiv wohl so extrem selten, dass vielleicht doch erst einmal eine Bestrahlung ausgereicht hätte. Zumal alle weiteren Befunde mir das Recht geben zu glauben, dass ich einer vollständigen Remission der Leukämie von damals näher bin als dem Tod.
Ich empfinde die Äußerungen dieses Arzte als besonders schnodderpampig. Dieser Arzt weckt auf der ganzen Linie mein Misstrauen. Die Therapie-Empfehlung zu kennen, bevor die Diagnostik abgeschlossen ist, das hatte ich in der Urologie in Itzehoe schon einmal gehört. Diese Kommunikation gehört eher in eine Sauerbruch-Operette aus dem 19. Jahrhundert als in ein modernes Krankenhaus im 21. Jahrhundert.
Sonnabend, 27. August 2022
Die sorgfältige Ärztin, die bei mir den ZVK gelegt hatte, hört sich meine Klage über dieses Gespräch an. Ich hätte noch keinerlei individuelle Risikobewertung für meine derzeitige gesundheitliche Lage erfahren, so dass ein Abwägen gegen die außerordentlichen hohen Risiken einer Stammzelltransplantation für mich überhaupt nicht möglich seien. Die Überlebensrate sei gemäß einem Bericht über eine Metastudie im Ärzteblatt nach wie vor nur 50%. Mit 70% Wahrscheinlichkeit reagiert der Organismus mit Abstoßung eigener Organe, zumindest sei langfristig mit weiteren chronischen Erkrankungen zu rechnen. Es müsse meist dauerhaft das neue Immunsystem mit immununterdrückenden Wirkstoffen behandelt werden.
Sie nahm telefonische Rücksprache mit einem Chefarzt und gab als Information weiter: Das extramedulläre Auftreten der Leukämie an sich sei bereits ein Hochrisikofaktor. Dafür spiele die molekulare Analyse der Gewebeprobe keine Rolle. Aha, das Auftreten einer Leukämiezelle außerhalb der Medulla ist also gefährlicher als der Befall des Knochenmarks? Die Definition der vollständigen Remission klingt dem diametral entgegengesetzt. „Krankheitsdefinierend ist ein Blastenanteil von ≥20% im peripheren Blut oder im Knochenmark oder in anderen Geweben (Myelosarkom)“, steht in der seit März 2022 gültigen Version der Leitlinie Akute Myeloische Leukämie. Laut Befunden sind mein Blut und Knochenmark frei von Blasten, und in meinem Sarkom ging es recht bunt durcheinander zu, da ist Raum für Interpretationen. Aber in diesem Haus gibt es nur eine einzige Interpretation: Stammzelltransplantation. Bleibt dieser Klinik nicht das Personal fern, sondern auch die Klientel?
Im Laufe des Tages bemerke ich, dass meine Wortwahl in meinen Gedanken sehr bissig und zynisch geworden sind. Innerlich übertrage ich mein Misstrauen zum Beispiel auch auf die sorgfältige Ärztin. Das ist nicht gut für das Vertrauen zu den Ärzt:innen insgesamt. Dieses Vertrauen hätte ich mir gerne bewahrt. Ich fasse den Beschluss, so schnell wie möglich eine weitere Meinung einzuholen und mir mit weiteren Entscheidungen mehr Zeit zu lassen. Ich stärke meinen Vorsatz, in einem neuen Anlauf das Vertrauen zur wissenschaftlichen Medizin wiederzugewinnen. Ihr verdanke ich ein fast beschwerdefreies Leben trotz Colitis ulcerosa und einer glücklich überstandene AML. Darüber hatte ich mich zwölf Jahre lang gefreut und jeden Tag mit meinem Schatz bewusst und ausgiebig genossen. Das soll ich mir von einem Dr. Kotzbrocken kaputt machen lassen? Egal aus welch einer Raison er handelt, das ist nicht mein Bier. Nein. Am besten ich vergesse ihn und sein Pfaffengewäsch. Am wichtigsten ist mir aber, andere Ärzt:innen meinen Missmut nicht spüren zu lassen.
Montag, 29. August 2022
Am Nachmittag hat es auf der 4A im AK Altona die wöchentliche Konferenz gegeben mit dem Professor aus St. Georg, der offenbar auch in dieser Klinik das Sagen hat. Danach berichtet mir Dr. Kotzbrocken in Anwesenheit von zwei weiteren Ärzt:innen, dass die molekulargenetischen Ergebnisse aus der Gewebeprobe noch nicht vorlägen. Egal ob es sich um ein extramedulläres Rezidiv der „alten“ Leukämie handele oder um eine neue Mutante, es sei in jedem Fall eine Stammzelltransplantation indiziert. Seine Stimme klingt weich gespült. Aber Fakten kann er mir noch immer nicht benennen, nur dieselben pauschalen Zeilen aus der AML-Richtlinie. Mit warmen Worten bittet er mich, seinen Kollegen in St. Georg doch noch eine Chance für ein Gespräch über eine Stammzelltransplantation zu geben.
Während des Gespäches will ich nichts mehr fragen. Die Agressivität, die ich nach dem letzten Gespräch verspürte, ist nicht mehr da. Gleichgültigkeit ist an die Stelle getreten. Ich bin mir sicher, dass ich in einer anderen Klinik behandelt werden möchte. Fast nebenbei erfahre ich, dass ich am Folgetag entlassen werden soll. Meine einzige Frage ist, ob irgenwo Plastiktüten vorhanden seien, so dass ich meine Habe mitnehmen kann.
Dienstag, 30. August 2022
An meinem Entlassungstag, erfahre ich, dass die beiden Ärzt:nnen, zu denen ich das meiste Zutrauen hatte, Asklepios verlassen haben. Es hat den Anschein, dass es für sie keinen Ersatz gibt. Die hämatologische Station blutet aus. Das klingt hämisch. Es ist die Häme der Wirklichkeit.
Mein Entlassungsbrief lässt auf sich warten. Mein Zimmerkollege ist im Zelltief seines zweiten Zyklus angekommen und leidet unter starkem Fieber. Wieder kommen zwei sympathische junge Leute vom ASB für einen Transport. Mittwoch ist St. Georg Tag. Mein Zimmerkollege soll zu einem Beratungsgespräch ins AK St. Georg transportiert werden.
Da ich nur noch auf meinen Entlassungsbrief warte, bleibe ich sehr ruhig und bitte den anwesenden Krankenpfleger, die Ärztin zu rufen. Die sorgfältige kommt prompt und greift – aus meiner Sicht überraschend beherzt und mit deutlichen Worten – entschlossen ein. Sie verhindert, dass mein fiebernder Kollege nach St. Georg transportiert wird. Der Drops ist gelutscht. Die beiden ASBler beweisen zum Abschied ihre gute Kinderstube.
Routinefragen an mich: Wie kommen Sie denn nach Hause? Zehn Minuten mit dem Bus, eine Stunde zwanzig bis Heide, dort holt mich meine Frau ab. Wollen Sie nicht mit dem Taxi fahren? Da muss ich in finanzielle Vorleistung gehen, dann muss ich bei meiner Krankenkasse die Bedüftigkeit nachweisen. Der Fragebogen dazu enthält zahlreiche juristische Fallen. Am Ende koste mich das 200 Euro, das kann ich mir bei 614 Euro Rente nicht leisten. Insbesondere nicht die Willkürentscheidungen meiner Krankenkasse.
Sowohl Pflege als auch Ärzte wollen mir ihre Wertschätzung zeigen. Ich bekomme ein ausgefülltes und unterschriebenes Formblatt. Mein Zimmerkollege hat früher selbst einige Jahrzehnte Taxi gefahren. Er telefoniert mit verschiedenen seiner Kollegen. Alle bestätigen, dass sie vom Fahrgast den Fahrpreis verlangen. Die Krankenkassen würden in der Tat nur sehr selten zahlen. Einer weiß zu berichten, dass Asklepios grundsätzlich das falsche Formblatt ausgebe. Ein Pfleger geht mit dem Formblatt zum Taxistand. Er kommt mit der Nachricht zurück, keiner der Fahrer wolle das Papier als Bezahlung akzeptieren. Hat die PR-Abteilung des Hauses das Personal mit putinreifen Fake-News versorgt? Hätte Dr. Google schon wieder merh Wahrheit parat als Asklepios?
Kurz danach überreicht mir ein Arzt den Entlassungsbrief. Er spricht mich auf das Gespräch am Vortag ein, ich hätte mich dazu ja überhaupt nicht geäußert. Ich antworte ihm, dass es sinnlos sei, meine Fragen zu wiederholen. Ich hätte zweimal keine Antworten darauf bekommen. Der Arzt zollt mir seinen Respekt angesichts meines reflektierten Umgangs mit der Erkrankung. Er tritt mir ausgesprochen empathisch gegenüber. Entgegen meiner ursprünglichen Absicht sage ich, dass ich plane, eine zweite Meinung einzuholen. Gleichzeitig bedauere ich das Ausscheiden der beiden Ärzt:innen aus dem Team, ich hätte gerne noch einmal mit ihnen gesprochen. Er wolle bleiben, verspricht mit der Arzt, er empfehle mir trotz allem, dass ich mich zum zweiten Zyklus wieder dort einfände. Ebenso ausdrücklich bestärkt er mch in meiner Absicht die Behandlung in seiner Klinik durch eine Zweitmeinung prüfen zu lassen. Auch diesem Arzt könnte ich trauen, denke ich, doch ein einzelner Kotzbrocken kann alles kaputt machen. Aber ich freue mich schon auf meinen Joker, meinen Hausarzt.
Freitag, 2. September 2022
Schon zu Hause. Ich sehe mir den vermeintichen Taxisschein der Klinik an. Mit dem Formblatt können Krankentransporte beim ASB angefordert werden. Per Fax. Tolle Wurst, hätte ich mal gleich lesen sollen. Hätte ich mich von einem dieser fröhlichen Youngster aufmuntern lassen können. Das Leben ist voller verpasster Gelegenheiten. Fazit: Der Taxischein ist kein Taxischein gewesen, ich war belogen worden. Aus Versehen? Nein! Alle Taxifahrer:innen bestätigten, Asklepios stelle grundsätzlich ungültige Taxischeine aus.
Ich sage eine weitere Behandlung bei Asklepios Altona ab:
„Guten Tag,
ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich nicht zur weiteren Behandlung am 7.9.22 in der Station 4A erscheinen werde.
Ich lasse mich zunächst anderenorts beraten, danach werde ich sehen, wie ich fortfahren kann.
Die Beratung ist bei Ihnen anscheinend nur im AK St. Georg möglich. Ich war kurz nach meinem Zelltief dort hinkutschiert worden, und sollte dort in einem überfüllten Wartezimmer Platz nehmen.
Ich halte dieses Vorgehen für zynisch, zumal ein Patient in der geschwächten Verfassung solchen ad-hoc-Beratungen nur mit verminderter Aufmerksamkeit folgen kann. Es liegen bei Ihnen unverzeihliche Mängel in der Kommunikation, die sogar teilweise außerordentlich widersprüchlich ist. Ein Patient wird damit allein gelassen, Rückfragen dazu wurden mir nicht beantwortet.
Bei der Pflege möchte ich mich ausdrücklich bedanken, die unter diesen Schwierigkeiten es zu keinem Zeitpunkt an Fürsorge und Aufmerksamkeit mangeln ließ. Ganz lieben Dank dafür.
Für wertvolle Hinweise danke ich insbesondere Herrn Dr. xy und Frau Dr. xx. Sie haben beide am Entlassungstag bei mir einen sehr empathischen und uns Patienten zugewandten Eindruck hinterlassen. Auch Ihnen ganz herzlichen Dank dafür.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Sternberg“
Mittwoch 7. September 2022
Ich bekomme gegen halb elf einen Anruf der Station 4A im AK Altona. Ob ich denn heute noch ankäme oder bereits auf dem Wege sei. Ich sage, dass ich schon am 2. September per Mail eine weitere Behandlung abgesagt hätte. Die Stimme am Telefon fragt nach, an welche Mailadresse ich dies gesendet hätte. Ich hätte der Mailadresse auf dem Entlassungsbrief vertraut. Die Stimme bedankt sich und drückt ihre Hoffnung aus, dass dann ja wenigstens die Ärzte Bescheid wüssten.
Die beiden letzten Einträge wiederholen sich im nächsten Teil.
–> Zum Hausarzt zurück
Donnerstag, 20. Oktober 2022
Es kommt vor, dass ich nachdenke. Im UKSH habe ich gelernt: einer Klinik stünden nur 10,68 € für die tägliche Verpflegung einer Patientin zur Verfügung. Professionelle liefern frei Haus zwischen 4,50 € und 7,50 € ein Mittagessen, einschließlich Personalkosten und Mehrwertsteuer.
In den meisten Kliniken gibt es Bäckereifilialen mit Cafébetrieb. Wir Patient:innen könnten uns bequem täglich frische Brötchen holen, vielleicht gibt es im Krankenhauskiosk auch frisches Obst. Daraus ließe sich locker einschließlich Personalkosten und Mehrwertsteuer eine Tagesverpflegung für zehn bis elf Euro zusammenstellen. Eine Tagesverpflegung, die den Regeln einer gesunden Ernährung nach DGE entspricht. Statt dessen müssen Asklepios-Patient:innen nicht nur ein minderwertiges ekliges Essen akzeptieren, sondern auch noch zehn Euro Selbstbeteiligung dafür bezahlen.
Warum dürfen Patient:innen nicht ihr Essen selbst bestimmen und der Staat verzichtet statt dessen auf die Selbstbeteiligung?
Diese Frage habe ich der Bundestagsabgeordneten Ingrid Nestle von Bündel 90 Die Grünen gestellt. Das passt vom namen her doch am besten.