Das Ende des Glaubens
Judith Arlt wirft in ihrem Essay über den Luxus der Sprache die Frage auf, ob die Erzählungen (Narrative) in Presse, Medien und Politik Mord und Gewalt rechtfertigen. Wir haben Mitte des vorigen Jahrhunderts damit begonnen, unterschiedliche Wahrheiten nebeneinander gelten zu lassen. Seitdem gibt es nicht nur das Wahrheitsverständnis der Naturwissenschaft. Daneben sollten parallel gültige Wahrheiten gelten dürfen. Der öffentliche Diskurs sollte dann richten, welche Wahrheiten in der Gesellschaft sich durchsetzen. So wurde die Wahrheit zur Ware im globalen Diskurs.
Die parallelen Wahrheiten können auf dem religiösen Glauben, auf einer Ideologie oder auf Fantasie, also literarischen Erzählungen beruhen, wie zum Beispiel der berüchtigten Erzählung über die Weisen von Zion oder anderen Märchen. Auch Personen im öffentlichen Leben bedienen sich solcher Weltsichten. Wir hatten einen Präsidenten der USA, der an seine eigene Herrlichkeit glaubt. Wir haben religiös geprägte Freunde Hitlers, die an die Judenreinheit der arabischen Welt glauben. Wir haben in Deutschland Gauländler, die aus der deutschen Geschichte die ethischen Maßstäbe für neue Vogelschisse ableiten. Ein Weltmarkt der Eitelkeiten.
Wir sind also heute so weit, dass das Narrativ, also die erzählte Geschichte, das Verständnis von Wahrheit ersetzt hat. Den meisten erscheint es plausibel, wenn jede Menschin ihre eigene Wahrheit hat und danach handelt. Wir kannten einmal Glaubensfreiheit, sie war Teil der Menschenrechte. Wir grenzten sie zur gesicherten Erkenntnis, der Wahrheit ab. Wir kannten einmal die geheimdienstlichen Legenden. Sie dienten der Spionage, der Zersetzung, der Desinformation, der Delegitimierung des jeweils anderen. Nun hat der globale Diskurs über Glauben, Legenden oder Narrative ein neues Prinzip hervorgerufen. Heute gibt es eine Wahrheitsfreiheit, die die alte Glaubensfreiheit einschränkt oder gar abschafft. Und sie bedroht den Primat des Wissens.
Die Dynamik des Wissens
Nach wissenschaftlichem Verständnis ist die Wahrheit dynamisch. Sie kann sich ändern. Dazu muss es jemandem gelingen, eine bestehende wissenschaftliche Aussage zu widerlegen. Was gestern galt, gilt morgen nicht mehr unbedingt. Das ist für viele Menschen zu schwierig. Die Menschen wollen etwas, das in ihrem eigenen Leben konstant bleibt. Sie wollen in Paradigmen aus der Zeit ihrer Erziehung verharren.
Wissenschaftliche Wahrheit hat sich überall dort durchgesetzt, wo Vorhersagen möglich sind. Der Wetterkunde hat niemand geglaubt, bevor ihre Vorhersagen immer häufiger verlässlich waren. Mondkalender oder Schafskälte haben ausgedient. Wetterkundige beschränken sich auf Vorhersagen für ein bis zwei Tage. Sonst erginge es ihnen wie der Klimakunde, deren Prognosen wir Unkundigen viel schwieriger prüfen können. Wir erinnern eben nicht genau, wie der Durchschnitt vor 50 Jahren aussah. Deshalb misstrauen wir.
Die Vorhersage, dass der Apfel vom Baum auf den Boden fällt, hat hingegen für die meisten Menschen einen hohen dauerhaften Wahrheitswert. An dieser Stelle glauben die meisten der wissenschaftlichen Wahrheit. Dass Flugzeuge auch wieder sicher landen können, hat so eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die meisten Menschen dies als Wahrheit akzeptieren.
Die Macht im Diskurs
Auch die Prognosen des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums haben sich 50 Jahre später als erstaunlich präzise erwiesen. Dahinter steckte ein ähnlich vielschichtiges Modell wie bei der Klimaforschung. Aber es gibt keine starken, finanzmächtigen Interessen, die für die Richtigkeit der Analysen teure Werbekampagnen fahren. Club of Rome oder Klimaforschung haben keine große Wirkmacht. Anders bei der Gentechnik. Sie könne den Welthunger besiegen, dafür wirbt die globale Börsenwirtschaft. So wie sie schon dafür warb, dass DDT, Agent Orange oder andere chemische Kampfstoffe den Welthunger besiegen könnten. Betrachten wir den öffentlichen Diskurs als eine Art globalen Markt der Wahrheiten, dann gilt heute das Recht reicher Weltkonzerne, die Wahrheit zu bestimmen, egal ob ihre Vorhersagen zutreffen oder nicht. Wissenschaftlich wahre Aussagen zu komplexen Themen werden schlicht ignoriert. Wer die Macht hat, bestimmt, welche wissenschaftlichen Aussagen die Oberhand gewinnen. Andere werden rhetorisch klein gemacht.
Der Erfolg dieser Strategie steckt in der Natur unserer Art. Im wissenschaftlichen Sinn ist die folgende Aussage einfach aber wahr: Jeder Mensch wird eines Tages sterben. Wir können das leicht überprüfen. Obwohl wir alle selber merken, dass wir immer älter werden und dem Tod näher rücken, verdrängen wir diese Wahrheit ein Leben lang. Diese einzige wirkliche Sicherheit in unserem Leben möchten wir nicht wahr haben. Wir denken uns Geschichten aus, um dieser Wahrheit zu entfliehen. Das ist unsere Weltsicht, unser Glaube, unser Narrativ.
Die Macht des Könnens
Den eigenen Tod können wir nicht verhindern. Andererseits können wir den Tod jedes Menschen herbeiführen. Denn wir wissen wie es geht. Alle Medien machen dafür reichlich Reklame mit ihren Unterhaltungsprogrammen. Um sich bewusst für das Töten eines anderen Menschen zu entscheiden, brauchen die meisten einen triftigen Grund. Den liefern wieder die Geschichten, zum Beispiel Geschichten vom erneuten Leben, vom Heldentod oder von einer überirdischen Gerechtigkeit. Diese Geschichten erlauben den Mörderinnen und Mördern, das Töten anderer Menschen für richtig oder gerecht zu erklären. Die parallelen Wahrheiten sind einfacher als die dynamische Wahrheit der Wissenschaft. Sie gibt uns die Kraft, den eigenen Tod auf später zu verdrängen und andere zu töten. Unsere Art betreibt dafür allerdings einen großen artfremden Aufwand.
Gemeinschaft statt Staat
Die Verhaltensforschung beobachtet bei einfach gestrickten, aber dennoch klugen Tieren die Bildung von Staaten, zum Beispiel bei Bienen, Ameisen oder Termiten. Hier kann jedes einzelne Tier jede Rolle einnehmen, die Tiere funktionieren im System. Sie sind in ihren Funktionen austauschbar. Wirbeltiere sind etwas komplizierter ausgebildet. Sie haben unterschiedliche Stärken oder Schwächen, sie sind Individuen. Wird eine Hauskatze frühzeitig von der Mutter getrennt, wird sie höchstwahrscheinlich weniger Mäuse töten und fressen. Sie hat den sicheren tödlichen Biss nicht mehr so gut drauf. Mutti hat es ihr nicht gezeigt. Dieses Individuum muss dann Aas fressen oder Dosenfutter. Diese Wirbeltiere bilden keine Staaten, sondern Gemeinschaften, deren Teilnehmerinnen auch wechseln können.
Viele Menschen werden dazu erzogen, ihre Artgenossen am Leben zu lassen. Der tödliche Biss wird ihnen abgewöhnt. Ist die Hemmung zu töten aber überwunden, fällt es einigen von einem tödlichen Biss zum nächsten leichter zu töten. Und die Menschen töten dann sogar auch ihre eigenen Artgenossen. Sie verlieren nach und nach ihre Gewissensbisse. Andere kultivieren ihre Hemmungen und sind vom Schlachten so angewidert, dass sich in ihrem Innern ein Trauma bildet. Allerdings führt das Verdrängen des eigenen Todes im alltäglichen Leben auch dazu, dass krankes oder siechendes oder bewusstloses Leben als lebensunwert angesehen wird. Krankheit kann also den Grund – oder Vorwand – zum bewussten Töten von Artgenossen bieten. Ob wir das als Töten, Morden oder Prügeln mit Todesfolge bezeichnen ist gleichgültig. Jurist:innen in unseren menschlichen Gemeinschaften unterscheiden all diese Tötungsformen, um unterschiedliche Strafen zu rechtfertigen. Aber für uns Menschen in unserer Wirbeltiergemeinschaft ist entscheidend, ob wir das Töten verhindern wollen oder nicht.
Staat innerhalb der Gemeinschaft
Nun hat der Mensch als Wirbeltier auch wieder streng hierarchisch geprägte Staaten ausgebildet, zum Beispiel Heere und Armeen. Hier werden die Menschen entpersönlicht und zu Tötungsrobotern gemacht oder auf die Bedienung mechanischer Tötungsroboter trainiert. Der Staat ersann die Pflicht als Tötungstermite zu dienen. Seit dem kollektiven Trauma des Vernichtungskriegs, der 1945 endete, wurde die staatliche Tötungspflicht leicht gelockert. Männer durften sich entscheiden, nicht zu töten.
Diese Entscheidung gegen das Töten wurde im postfaschistischen Deutschland gerne den männlichen Jugendlichen besonders schwer gemacht. Die Prüfung führte das Militär selbst durch. Es wurden Situationen diskutiert, um ein wahrhaftiges Gewissen von dem eines Simulanten zu unterscheiden. Da sollte mann sich vorstellen, die Vergewaltigung seiner Freundin zu tolerieren, während mann selbst eine Feuerwaffe auf der Schulter trug.
Bei diesen Diskussionen saßen drei militärische Gewissensprüfer einem jungen Menschen ohne Tötungsabsicht gegenüber. Sozusagen drei mutige Menschen gegen einen Feigling. Sie lauerten wie die Hyänen auf jeden falschen Satz des Tötungsverweigerers, um dessen Gesuch abzulehnen. Sie machten aus ihrem skrupellosen Vernichtungswillen keinen Hehl. Ein Militär erläuterte mir, dass man Menschen wie mich früher an die Wand gestellt hätte. Er drohte mir also, dass mir eine anonyme Masse mordwütiger den sicheren Tod bringen könnte. Solche Drohungen mit solchen empfindlichen Übeln waren der freiheitlich-demokratischen Polizei schon damals verboten. Die freiheitlich-demokratischen Militärs durften sich noch in solchen blutrünstigen Träumen suhlen.
Die eigene Geschichte
Ich selbst habe vier Mal solche Prüfungsverfahren erlebt, bevor ich das Recht hatte, vor ein ziviles Gericht zu treten. Da gab es einen genussreichen Moment. Eine Gewissenprüferin mit mütterlich ausgeprägter Oberweite fragte mich, was denn meine Mutter von meiner Verweigerung des Tötens halte. „Welche Mutter schickt ihre Kinder schon gerne an die Front.“ Sie erhob sich, beugte ihren Körper über den Tisch und sagte währenddessen: „Ich wäre stolz, wenn mein Sohn auf dem Feld der Ehre … “ Und in diesem Moment, als ihr Halsausschnitt unter meiner Nase schwappte, verreckte ihre Stimme. Was sie hätte sagen können? Mein Sohn auf dem Feld der Ehre elendig verbluten würde? Mein Sohn auf dem Feld der Ehre sein ewiges Leben krönen würde? Nein, ihre Stimme verreckte und der letzte Rest des Wesens ihrer Wirbeltierart obsiegte. Er hatte ihr die Sprache verschlagen. Manchmal führt eben auch der ungerechteste Diskurs zur Wahrheit.
Trotzdem hatte ich diese Runde verloren. Mein Gewissen wurde als unwahr bewertet. In der Begründung gab eine politische These den Ausschlag. Ich hatte die Wahrscheinlichkeit, dass mein Staat einen Krieg außerhalb der eigenen Grenzen führe, mit 50:50 bewertet. Das deutsche Militär ließ damals aber ausschließlich die Antwort null Prozent zu. Heute wissen wir, dass ich 50% mehr Wahrheitsgefühl besaß als das deutsche Militär. Die Wahrheit ist halt dynamischer als sich das so eine Militärkommission vorstellen kann.
Das Märchen der Mordmaschine
Die Wehrmacht unseres Staates hat noch keinen einzigen militärischen Einsatz im eigenen Land vollzogen. Wie lautet die unwissenschaftliche Erzählung für diese Wahrheit? Friedensmissionen in fremden Ländern und Kulturen. Alle Tötungen waren dabei Kollateralschäden. Die Tötung eines Menschen ist also nur ein Sachschaden wie ein kaputter Kotflügel. Wer solche Sachschäden erfolgreich verursacht, wird in der Hierarchie befördert. Wir dürfen also vermuten, dass die Verursacher der Schäden zu der Kategorie Mensch gehört, die nach dem ersten Tötungsdelikt nach weiterem Töten gieren. Im alltäglichen Leben würden wir von Massenmördern sprechen. In ihrer Weltsicht, in ihrem Narrativ sind sie aber die Erlöser.
Für jedes Militär benötigen wir eine Erzählung. Die Basis-Erzählung ist der eigene Lebenswille. Meine Mutter sagte, ich solle dem anderen eine reinhauen, wenn er mich anspuckt oder tritt. Rache, Vergeltung, Auge um Auge. Die nächste Eskalationsstufe ist die katholische Mafia-Familie. Wird ein Mitglied aus dem Clan beleidigt, bekommt der Täter die Rache des Clans zu spüren. Das gleiche Modell der Clans kennen alle Wirbeltier-Gemeinschaften, die an einen Alleinseligmacher glauben. Mehrere Clans bilden eine Oligarchie, sie und ihre Sklaven, Leibeigenen oder Arbeiter:nnen bilden eine Volksgemeinschaft.
Die Volksgemeinschaft wiederum bildet dann den Staat einer Wehrmacht aus. Auf dieser Stufe benötigen wir eine neue Erzählung. Wir brauchen das Konzept der Guten. Alle Angehörigen aller Clans in einer Oligarchie haben das Recht in ihrem Gauland zu leben. Überall wo die Gauländler in der Mehrheit sind, ist Gauland. Nichtgauländler, die über Gauländler herrschen, sind Nazis. Wenn einzelne Gauländler lieber in einem Land leben wollen, das nicht Gauland ist, sind sie auch Nazis und Verräter. Alle dürfen gnadenlos vergewaltigt, ermodert oder weggebombt werden.
Diese Weltsicht, diese Erzählung, dieses Narrativ ist so alt wie die Geschichte aller Religionen. Deutschland war ein solches Gauland, die arabische Welt besteht aus muslimischen Gauen, Russland auch.
Der Krieg ist das Verbrechen
Als sich Mitte des vorigen Jahrhunderts behäbig und langsam die Einsicht breit machte, dass die Massenmorde unserer Art in oligarchischen Gauländern nicht dem Arterhalt der eigenen Art dienen, ersannen wir die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und das Völkerrecht. Es hat einen erheblichen Mangel. Es akzeptiert den Krieg als Politik und kennt Verbrechen innerhalb dieser Kriegspolitik. Sie nannten es damals Kriegsverbrechen. Der Krieg selbst aber ist das Verbrechen. Egal ob wir den Krieg einen Friedenseinsatz, eine Spezialoperation oder einen Verteidigungskrieg nennen. Wir müssen die Menschenrechtserklärung neu erfinden und den Krieg vollständig ächten. Das wird wohl einige Zeit dauern. So lange, bis es in allen Gauländern den Müttern die Sprache verschlägt. So lange bleibt es ein ungültiges Narrativ. Noch verliert es im globalen Diskurs an Wahrheit.